Grundlegende Erfahrungen der Krisenstabsarbeit der vergangenen zwölf Monate, in S+S Report 01/2021

Die vergangenen Monate haben in unser aller Leben massive Spuren hinterlassen. Diese Spuren sind bei drei Gruppen besonders ausgeprägt: bei den Jugendlichen und jungen Familien, den vielen Selbstständigen und  Gewerbetreibenden und den älteren Menschen in den Pflege und Altersheimen. Sie alle haben geleistet und leisten weiterhin sehr Besonderes und verdienen unser aller Respekt und Anerkennung. Die Aufzählung dieser drei Gruppen soll die vielen anderen Betroffenen keineswegs ausgrenzen. Die Pandemie hat große Teile der Bevölkerung alle menschlich und wirtschaftlich an fundamentale Grenzen  geführt. In der „Zeit nach Corona“ werden wir uns fragen, welche Lehren wir alle aus diesen Monaten „Sondersettings unseres Lebens“ ziehen werden.

Artikel von Dr. Klaus Bockslaff

Weitere Aspekte der Coronakrise erleben wir in den vielen betroffenen Institutionen und Unternehmen. Wir alle haben uns noch vor kurzer Zeit nicht vorstellen können, dass in sehr vielen Unternehmen, von einer „Entspannungspause“ im  Sommer und Frühherbst abgesehen, seit dem März 2020 bis jetzt fast durchgehend „Krisenmodus“ herrschte. Nicht selten ist mittlerweile die Zahl
von 140 Sitzungen der Krisenstäbe erreicht oder überschritten worden.

Die nachfolgend geschilderten Erfahrungen der Krisenstabsarbeit [1] aus den vergangenen zwölf Monate basieren auf einem intensiven Austausch mit den Vertretern namhafter Unternehmen. Bei jeweils 90-minütigen Treffen per Teams wurden alle zwei bis drei Wochen die jeweiligen Entwicklungen in einem Kurzreferat dargestellt und anschließend sehr offen auch kritische Themen und Fragestellungen ausgetauscht.

An diesen Treffen haben im Wesentlichen die Vertreter von Wirtschaftsunternehmen aus den verschiedensten Branchen teilgenommen. Sicherlich sehr wichtige Erfahrungen aus dem Bereich der  beteiligten öffentlichen Krisenstäbe auf der kommunalen oder regionalen Ebene konnten nur am Rande beobachtet werden. Es zeigt sich aber, dass die Herausforderungen bei den Krisenstäben auf der kommunalen oderregionalen Ebene den Fragestellungen in der Wirtschaft sehr ähnelten. Angesichts der Fülle von Themen, die in der Arbeit dieser Gremien in den vergangenen Monaten große Bedeutung hatten, seien hier nur die aus unserer Sicht besonders wichtigen Punkteangesprochen.

Die folgenden Punkte aus den Diskussionen seien beispielsweise genannt:

[1] Der Begriff „Krisenstab“ wird hier als die Bezeichnung für das Entscheidungsgremium verwendet, das diese Situation steuerte, unabhängig davon, wie die interne Bezeichnung in den Unternehmen oder Institutionen war.

Pandemiepläne griffen häufig zu kurz

In vielen Unternehmen waren seit den Zeiten der Schweine- bzw. Vogelgrippe Pandemiepläne vorhanden. Diese Pläne orientierten sich vielfach an den klassischen Szenarien der BCM-Notfallplanung „Personal-,Gebäude-, IT- und Dienstleisterausfall“. Vielfach waren sie zudem noch an den ursprünglich vorgesehenen Pandemiestufen der WHO ausgerichtet. Die haben sich aber als nicht realistisch erwiesen.

Nur wenige Unternehmen haben glücklicherweise kritische Personalausfälle durch die Pandemie zu beklagen. Und trotzdem stehen die Mitarbeiter im Mittelpunkt der Prävention und Notfallbewältigung. Gebäude und Büroräume stehen weiterhin zur Verfügung, können aber wegen der Distanzierungsmaßnahmen nur eingeschränkt genutzt werden. Die IT muss kurzfristig externe Zugänge mit mobilen Endgeräten für eine große Zahl an Mitarbeitern zur Verfügung stellen und dabei Datenschutz und Informationssicherheit weiterhin gewährleisten. Mit Dienstleistern gilt es in engem Kontakt zu bleiben, um schnell auf Einschränkungen der Lieferfähigkeit reagieren zu können.

Die Aufgabenstellung lag nun darin, die vorhandenen Pandemiepläne an die bei COVID19 gegebene Situation anzupassen. Dazu mussten auf einer Vielzahl von Gebieten Regelungen neu getroffen und in die  entsprechende Planung eingearbeitet werden.

Home-Office wird unsere Gesellschaft verändern

Die Einrichtung von Home-Office als Arbeitsform in der Corona Zeit hat sich als ein sehr wirkungsvolles Mittel zur Reduzierung der sozialen Kontakte erwiesen. Mussten sich die Mitarbeiter früher sehr umständlich um einen Tag Home-Office bemühen, wurde dies nun zur weitverbreiteten Übung. Mit der Einrichtung der Möglichkeit zum Home-Office sind eine Vielzahl von Herausforderungen verbunden. Vielfach war und ist die häusliche Umgebung nicht darauf ausgerichtet. Während die technischen Anforderungen und Ausstattungen sich zum Teil nur Nutzung von privaten Geräten noch recht zügig klären ließen, zeigten sich die damit verbundenen Schwierigkeiten im privaten Bereich insbesondere bei jungen Familien. Als dann auch noch die Kindertagesstätten und Schulen schlossen, musste Home-Office mit Home-Schooling verbunden werden. Aus der betrieblichen Sicht stellten sich bis jetzt nicht geklärte Fragen der Sicherstellung des Datenschutzes und der Informationssicherheit. Wie wird im häuslichen Bereich mit vertraulichen Unterlagen umgegangen?

Es ist zu früh, um zu beurteilen, wie stark die Arbeit aus dem Homeoffice die IT-Sicherheit in den Hintergrund hat treten lassen. Erforderlich ist aber jedenfalls, dass das Sicherheitsbewusstsein bei den Mitarbeitenden erheblich gestärkt wird. Die möglichen Folgen zeigen sich im nächsten Punkt.

Ransomware-Attacken

Das gleichzeitige Auftreten von COVID 19 und einer Ransomware-Attacke stellt die Unternehmen unter besonderen Stress. In den letzten Monaten haben die Ransomware-Attacken auf Unternehmen massiv zugenommen. Bei dieser „Krise in der Krise“ hat es sich bewährt, dass der „normale“ Krisenstab und der IT-Krisenstab sehr eng nach gemeinsamen Regeln und Vorgehensweisen miteinander arbeitete. Die bisherige Trennung wurde aufgehoben und eine neue gemeinsame
Struktur geschaffen. Dabei wurde in dieser Situation etwas geschaffen, was in „normalen“ Zeiten sehr viel Überzeugungsarbeit erfordert hätte.

Eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg dieses neu geschaffenen gemeinsamen Krisenstabs war, dass Möglichkeiten geschaffen wurden, dass das „Kernteam“ gemeinsam in einem grossen Raum unter Einhaltung aller Hygieneregeln arbeiten konnte. Das vorhandene Personal konnte durch sofortiges Teilen des Krisenstabes in zwei voneinander unabhängig agierende Krisenstäbe optimal eingesetzt werden.

Die Zunahme von Ransomware-Attacken auf Unternehmen in den letzten Monaten kann zum Teil auf die Arbeit aus dem Home-Office zurückzuführen sein. Die IT-Sicherheit ist häufig in den Hintergrund getreten. Erforderlich ist, dass das Sicherheitsbewusstsein bei den Mitarbeitenden erheblich gestärkt wird. Ein gutes Mittel ist das Angebot von Tools und eLearning-Möglichkeiten, die zum Beispiel die Möglichkeit bieten das Risiko einer möglichen Phishing-Attacke simulieren zu lassen. Mit dem Phishing Reply Test (PRT) kann ein Unternehmen schnell und unkompliziert feststellen, ob und wie viele seiner Mitarbeiter in Schlüsselabteilungen auf hochgradig zielgerichtete Phishing-Angriffe hereinfallen.

Rollen- und Entscheidungsfindung im Krisenstab

Die Rollen- und Entscheidungsfindung und die Führung im Krisenstab stellen große Herausforderungen dar. Bei den Gesprächen mit den Teilnehmern der Gesprächsrunde wurde von den Experten immer wieder von eklatanten Führungsfehlern der Entscheidungsträger in der Stabsarbeit berichtet. In manchen Beiträgen kamen die „Lamettaträger“ nicht wirklich gut weg. Es hat sich auch bei dieser „Krise“ gezeigt, dass die Leitung und Führung eines Krisenstabes nicht Fertigkeiten sind, die mit der Ernennung auf eine bestimmte Position automatisch verbunden sind. Listet man die Fertigkeiten und Fähigkeiten auf, die von einem guten Leiter eines Stabes zu erwarten sind, so liest sich das wie ein Anforderungsprofil bei einem Assessmentcenter. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die grundsätzlich vorhandenen Fertigkeiten in einer Krisenstabssituation unter besonderen Stress geraten. „Stress entsozialisiert“ heißt einer der Kernsätze der Führungslehre.

Eine unserer grundlegenden Aussagen zum Thema Krisenmanagement ist, dass das Kernelement des Krisenmanagements ein strukturierter Entscheidungsfindungsprozess in einer hocheskalierten Lage ist. Diesen Prozess zu steuern, ist die wesentliche Aufgabe des Leiters eines Krisenstabes.

❏ Eine der größten Herausforderungen in der Stabsarbeit ist der Entscheidungsfindungsprozess. Die Herausforderungen der Entscheidungsfindung werden häufig unterschätzt. Schlechte Entscheidungsfindung verschlimmert eine ohnehin schon schwierige Situation.
❏ In seinem eigentlichen Kern umfasst Ereignis- und Krisenmanagement eine gute Reaktion auf eine hoch eskalierte Situation auf der Basis der besten verfügbaren Informationen, um damit die Entscheidungen umzusetzen, so die Reaktion der Organisation zu dem Ereignis zu kontrollieren und damit die Auswirkungen des Ereignisses zu minimieren. [2]

Dieser Entscheidungsfindungsprozess wird von modernen Krisenmanagement-Tools [3] begleitet, die dabei die Arbeit des Stabes selbst und nicht nur einen Randprozess des Krisenmanagements, wie z. B. die Alarmierung unterstützen. In ISO CD 22361 wird die Bedeutung der Entscheidungsfindung besonders hervorgehoben und eine Vorgehensweise empfohlen, die u. a. unserer Methodik entspricht.

[2] So ausdrücklich der Entwurf zur neuen ISO-Norm zum Krisenmanagement, ISO CD 22361
[3] Als Beispiel sei auf unser Krisenmanagement-Tool DEMiOS 3 verwiesen

Internationale koordination und virtuelle Krisenstabarbeit erfordern neue Lösungen

Gerade bei großen Unternehmen und Konzernen sind an der Bewältigung der Situation Stäbe in vielen Ländern beteiligt. Es stellt sich die Frage, wie die Arbeit dieser Stäbe miteinander koordiniert wird. Ein wichtiger Erfolgsfaktor in dieser Situation ist, dass die Arbeit dieser verschiedenen Stäbe auf der Basis eines gleichen methodischen Ansatzes erfolgt. Dabei hat sich der Führungsrhythmus als verbindendes Element der inhaltlichen Arbeit mit den in der Grafik unten dargestellten Schritten bewährt.

In der betrieblichen Praxis gibt es zu dieser hier vorgestellten Ablauforganisation die verschiedensten Varianten. Im Kern ist es aber erforderlich, dass die verabschiedete Vorgehensweise konzernweit möglichst gleichförmig verwendet wird. Eine durchgängige Methodik auf der zentralen und der regionalen Ebene ist für den Erfolg der Krisenmanagementarbeit wichtig. Diese Vorgehensweise beinhaltet auch die Strukturierung des Entscheidungsfindungsprozesses. Die Entscheidungsfindung selbst sollte nicht das Ergebnis eines spontanen Beschlusses, sondern eines gesteuerten Prozesses sein. Die Entscheidungsfindung ist der Kern des Krisenmanagements.

In der Praxis großer Unternehmen wurde den regionalen und lokalen Krisenstäben ein umfassendes „Toolset“ verschiedenster Elemente zur Verfügung gestellt. Dieses besteht neben der aktiven Unterstützung im Ereignisfalle durch die Zentrale aus einer Fülle von hilfreichen Unterlagen und Trainingsmaterialien. Durchgängiges Kriterium für das Ausmaß der zentralen Steuerung ist die Idee von „Freedom in a Framework“, d. h. bei den zentralen Vorgaben: „so wenig wie möglich, so viel, wie erforderlich“.

Ein Führungsrhythmus, der sich an den dargestellten Schritten orientiert, ist ein wesentliches verbindendes Element der inhaltlichen Arbeit und sollte konzernweit gleichförmig verwendet werden (Grafik: Verismo GmbH)
Schub für die Digitalisierung

Die Corona-Krise hat die Digitalisierung um mindestens fünf Jahre nach vorne getrieben und die Anforderungen an digitale Lösungen verstärkt. Neue Techniken wie MS Teams setzen sich durch. MS Teams und andere Kommunikationstools haben sich als zentrales Kommunikationsmittel in vielen Unternehmen bewährt. Damit verbunden ist die Nutzung von Ablagen und Teilen von Informationen. Informationen werden dezentral von der Fachorganisation nach etablierten Methoden gesammelt und an die Zentrale geliefert.

Die Akzeptanz von Cloud-Services hat zugenommen, weil deren Sicherheit gestiegen und deren Verletzbarkeit gesunken ist. Die Vernetzung von Lösungen und deren skalierbare Verfügbarkeit durchdringt alle Bereiche. Neben den klassischen Themen zum Krisenmanagement treten die zukünftigen Anforderungen stark in den Vordergrund. Es müssen neben dem methodischen Vorgehen in einer Krise auch Kompetenzen in digitaler Kommunikation, digitalem Krisenmanagement, Datenschutz, Cyber Security sowie Krisenkommunikation über „alte“ Medien und Social Media aufgewiesen werden; das sind Basisanforderungen von heute, die morgen sicherlich noch wichtiger werden.

Eine zukunftsfähige Krisenmanagementanwendung muss einem Unternehmen ermöglichen, über Schnittstellen vorhandene Lösungen wie Alarmierungstools, Ereignismeldesysteme, Kollaborationstools oder Programme wie Office 365 mit der Krisenmanagementanwendung zu vernetzen und kostengünstig in die bestehende IT-Systemlandschaft zu integrieren. Unsere Zukunft hängt von der Interaktivität der Teilsysteme ab. Die Corona Krise hat an diesen Schnittstellen zu neuen Erfahrungen geführt, die unsere Zukunft verändern und verbessern werden.

Aus der Krise lernen

Eine der wesentlichen Forderungen des Krisenmanagements besteht darin, das zum Abschluss einer Krise in einem ausführlichen „Debriefing“ eine sorgfältige Untersuchung darüber vorgenommen wird, wie die Bearbeitung der Situation zu bewerten ist.

Beim Abflauen der COVID19-Pandemie im vergangenen Sommer und Herbst wurde diese Chance zum „Lessons learned“ häufig vertan. Es soll sogar Unternehmen gegeben haben, bei denen mit dem Hinweis auf „es ist doch alles gut gegangen“ der Stellenwert des Krisenmanagements insgesamt infrage gestellt wurde. Die Ereignisse im Herbst/Winters 2020/2021 haben allerdings gezeigt, dass diese Einschätzung falsch war. Lassen Sie uns hoffen, dass wir im weiteren Verlauf dieses Jahres die Chance bekommen, erneut zu fragen: „Wie wars“?

Wir empfehlen dringend, eine Bewertung der Arbeit der Krisenstäbe oder „Task Forces“ vorzunehmen. Wir schlagen vor, in Einzelinterviews mit den handelnden Personen eine Reihe von Fragen zu klären. Dazu könnten gehören:

❏ Was ist gut gelaufen?
❏ Welche Beiträge haben das Ergebnis gefördert?
❏ Was ist schlecht gelaufen?
❏ Hatten wir es mit einem gesteuerten Prozess zu tun?
❏ Was kann ich tun, um den Reifegrad des Krisenmanagement-Prozesses zu verbessern?
❏ Welchen Beitrag kann ich selbst dazu leisten, damit es in Zukunft besser läuft?
❏ Wo sehe ich Verbesserungspotential?

Diese Untersuchung der Arbeit der verschiedenen Stäbe sollte durch Personen erfolgen, die nicht direkt in der Arbeit beteiligt waren. Die Ergebnisse könnten dann in einem Bericht zusammengefasst und mit entsprechenden Empfehlungen vorgestellt werden. Der Umsetzungsgrad der verabschiedeten Empfehlungen wird den Reifegrad des  Krisenmanagementsystems zeigen.

Insgesamt hat sich das Krisenmanagement in den vergangenen zwölf Monaten sehr stark verändert. Schwächen aus der Vergangenheit sind plastisch hervorgetreten. Neue Anforderungen sind insbesondere im Bereich der Arbeit in virtuellen Stäben hinzugekommen. Angesichts der zunehmenden Erkenntnis, dass die gegenwärtige Corona Krise nicht die letzte durch Viren ausgelöste Krisen sein könnte, sind geeignete Maßnahmen für die Zukunft dringend erforderlich. Sonst geht es uns so, wie nach der Vogelgrippe: Es sind die grundlegenden Erkenntnisse da, sie werden aber nicht genutzt.

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