Krise ist – vereinfacht gesagt – wenn nichts mehr ist, wie es war oder besser, wie es sein sollte. Das gilt sowohl für Ausnahmeereignisse wie die aktuelle COVID-19-Krise und gerade auch für „kleinere“ und zeitlich begrenztere Ereignisse. Es sind hocheskalierte Ausnahmesituationen, die durch die Normalorganisation nicht bewältigt werden können und wofür auch das operativ ausgerichtete Business Continuity Management (BCM) keine vollständige Lösung bietet. Denn in einer Krise geht es nicht ausschließlich um die Wiederherstellung des Normalbetriebs, sondern viel mehr um die Begrenzung des gesamtunternehmerischen Schadens in einer Situation, in der eine Lösung zunächst nicht bekannt ist. Und gerade dieser Aspekt ist es, der in der ersten reaktiven und „lauten“ Phase einer Ereignisbewältigung oft übersehen wird.
Während der laufenden Coronakrise war bei vielen Unternehmen die Bereitschaft sehr gering, grundlegende Veränderungen im Krisenmanagement vorzunehmen. Mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende der aktuellen Situation wächst die Bereitschaft, aus den Erfahrungen der vergangenen Monate die richtigen Lehren zu ziehen. Mit einem unvoreingenommenen Assessment sollte jetzt die Grundlage für eine nachhaltige Verbesserung der Vorbereitung für zukünftige Herausforderungen auf dem Gebiet des Kontinuitäts- und Krisenmanagements geschaffen werden. Es gilt, zahlreiche Schwachpunkte zu identifizieren, zu bewerten und mit geeigneten Maßnahmen zu beseitigen.
Für die versicherungsnehmende Wirtschaft bedeutet dies zunächst die Optimierung der bestehenden Versicherungsverträge. In den Unternehmen ist eine ganzheitliche Betrachtung erforderlich, die Fragen des Versicherungsmanagements, des Supply Chain Managements, der Unternehmenssicherheit, des Kontinuitäts- und Krisenmanagements umfasst. Hier sind Veränderungsprozesse erforderlich, die auch vor klassischem Bereichsdenken nicht halt machen. Das schon länger diskutierte Stichwort „Resilienzmanagement“ erlebt eine neue Blüte. Die Forderungen nach einer Neuorientierung der Unternehmenssicherheit findet Gehör. Ein umfassendes Verständnis von Risikomanagement belebt die interne Diskussion.
Welche Auswirkungen hat diese Diskussion nun auf den hier im Vordergrund stehenden Bereich des Krisenmanagements? Die grundlegende Anforderung an das Krisenmanagement ist es, eine Situation zu schaffen, in der strategische Entscheidungen in einem strukturierten Prozess getroffen werden können und dabei in Zukunft die Herausforderungen und Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen.
Welche Erscheinungsbilder sind es denn, die eine Krise prägen? Gerade in der Anfangszeit herrscht typischerweise Chaos. Meist ohne Vorwarnung tritt die Krise ein und verändert schlagartig die Anforderungen an die betroffenen Unternehmen. Bisherige Regeln und Prozessabläufe greifen nicht mehr. Die massgeblichen Führungskräfte müssen sich erst zusammenfinden, um koordiniert und strukturiert in eine Richtung zu arbeiten. Das alles geschieht unter immensem Druck, denn der Zeitfaktor ist erfolgsentscheidend. Wer zu lange wartet, minimiert seine Handlungsspielräume und seine Chancen, heil aus der Situation zu kommen.
Aber rasche und vor allem richtige Maßnahmen für global vernetzte Systeme zu definieren, das ist leichter gesagt als getan. Denn wir alle wissen: übermäßiger Stress lähmt das Denk- und Analysevermögen. Unter Druck kommt es oft zu Spontanreaktionen, die eher kontraproduktiv sind oder sogar eine angehende Krise in eine Große verwandelt. Zudem erfordern die zahlreichen organisatorischen Maßnahmen einen hohen Personaleinsatz.
An dieser Stelle kann mittlerweile die Kombination aus Methodik und Technik gravierend unterstützen. Der konsequente methodische Ansatz der strategischen Entscheidungsfindung, wie er als „Führungsrhythmus“ bei zahlreichen Stäben im Bereich des Zivilschutzes oder des Militärs Anwendung findet, bietet in der strukturierten Abfolge die notwendige Orientierung. Wenn dieser Führungsprozess als Strukturelement im Krisenmanagement in eine darauf zugeschnitten Programmierung eingebettet wird, entsteht eine Unterstützungswerkzeug, das dem Krisenstab und Lagezentrum entscheidende Entlastung verschafft.
Zu den Problempunkten im klassischen Krisenmanagement gehören oft die administrativen Begleitprozesse, wie die Auftragserteilung, das Auftragscontrolling, das Protokoll schreiben und die Informationsbeschaffung. Sie sind oft sehr zeitaufwändig und binden unverhältnismäßige Ressourcen. Dazu zählt auch die Visualisierung der Lage, die oft trotz des hohen Aufwands nicht so gestaltet ist, dass wirklich alle Mitglieder des Stabs ein „gemeinsames Bild von der Lage“ haben. Und auch der Zeitverlust bis zur Handlungsfähigkeit des Stabes vor seiner ersten Zusammenkunft ist oft ein gravierender Problempunkt.
Eine moderne Krisenmanagement-Anwendung unterstützt den Krisenstab in seiner Arbeit, setzt also bei diesen typischen Schwachpunkten des klassischen Krisenmanagement-Prozesses an, strukturiert Aufträge und deren Controlling, vereinfacht die Protokollierung und die Informationsweitergabe. Zudem sollte sie helfen, die Interaktion zwischen den Mitgliedern eines oder mehrerer Stäbe zu ermöglichen und allen ein umfassendes Gesamtbild der Lage in Echtzeit zu liefern.
Die aktuell am Markt angebotenen Lösungen unterscheiden sich in der verwendeten Technologie. Vor einigen Jahren wurden lokale, datenbankbasierte Programme, teilweise mit großem Aufwand, entwickelt, die sich auf die Bereitstellung von Dokumenten oder Alarmierungsprozesse innerhalb der eigenen Systemarchitektur konzentrierten. Am Markt durchgesetzt haben sie sich nicht.
Dagegen haben webbasierte Alarmierungstools mit ihren universellen Zugangsmöglichkeiten mittlerweile eine große Verbreitung. Die Alarmierungssoftware sorgt für die sehr wichtige zeitnahe Grundlageninformation aller Beteiligten, berücksichtigt aber das strukturgebende Element des nachfolgenden Führungsprozesses und der Interaktion bestenfalls nur ansatzweise. Eine Krisenmanagement-Anwendung muss aber gerade diese beiden Elemente sinnvoll zusammenführen. Zudem sollten geeignete Schnittstellen ermöglichen, dass die etablierten und vorhandenen Systeme in Unternehmen ohne Medienbruch genutzt werden können. Das bedeutet, dass etablierte Systeme wie Office 365, SharePoint, virtuelle Kommunikationsanwendungen und Datenpools nahtlos eingebunden werden können. Damit wird der Workflow aus dem Krisenstab ohne Zeitverlust direkt an die Mitarbeitenden geleitet. Die Reaktionszeiten steigen damit entscheidend ohne zusätzlichen Schulungsaufwand.
Bei der Einführung einer Krisenmanagement-Anwendung sind einige technische Anforderungen zu erfüllen, die aber in modernen Unternehmen heute meist vorhanden sind. Mit einem Konzeptionierungsworkshop sollte das konkrete Bedürfnis des möglichen Nutzers erfasst werden. Digitalisierungslösungen in einem Unternehmen sind kein „Produkt von der Stange“. Abhängig von den konkreten Wünschen des Unternehmens und dem Stand der Implementierung bereits vorhandener Tools sollte als Ergebnis des Konzeptionierungsworkshops ein Grobkonzept für eine zukünftige Lösung geschaffen und anschließend verabschiedet werden.
In der Praxis erleben wir als Berater an dieser Stelle die Konfrontation mit der „eierlegenden Wollmilchsau“. Aus unserer Sicht ist der verständliche Wunsch nach der Alles abdeckenden Gesamtlösung nicht erfüllbar. Wir sehen die Lösung in der zukunftsorientierten Integration vorhandener Lösungen bzw. deren Anpassung an konkrete Anforderungen unter Berücksichtigung modernster webbasierter Techniken. Dabei spielt der Gesichtspunk der „Usability“, d.h. der Nutzung durch ungeübte Mitarbeiter in einer Stresssituation eine große Rolle. Die angestrebte Lösung liegt darin, so lange wie möglich in dem Toolumfeld zu bleiben, an das die Mitarbeiter aus der täglichen Arbeit gewöhnt sind.
Zudem sollte ein analoges Krisenmanagement-Handbuch im Unternehmen vorhanden sein oder parallel zur Einführung entwickelt werden. Es ist vorteilhaft, wenn dessen methodischer Ansatz und die web-basierte Krisenmanagement-Anwendung in eine Richtung gehen, d.h. die Struktur der Dokumentation und die Abfolge im Tool folgt dem gleichen methodischen Ansatz, dem Führungsrhythmus. Typischerweise ist das analoge Handbuch zusätzlich in der Anwendung hinterlegt und kann so jederzeit elektronisch hinzugezogen werden.
Bei der Krisenbewältigung bleibt aber auch beim Einsatz eines unterstützenden Tools und bester organisatorischer Grundlagen der Faktor Mensch mit seinen individuellen Qualitäten der entscheidende Erfolgsfaktor. In dieser Situation ist es vor allem wichtig, dass die handelnden Personen sich über ihre eigenen Verhaltensmuster unter Stress bewusst sind und teamfähig bleiben. Es werden besondere Anforderungen an die Führungsperson eines Krisenstabes gestellt. Das Vorhandensein eines Tools und die Arbeit mit diesem dürfen darum während der Krisenbewältigung auf keinen Fall eine zusätzliche Belastung darstellen. Die Nutzerführung sollte so selbsterklärend und intuitiv ausgelegt sein, dass sie auch von einer unerfahrenen Person sofort erfasst werden kann. Führungsdefizite kann das Tool nicht beseitigen, ihre Folgen aber durch die klare Struktur mindern.
Trotz allen Fortschritts wird wohl auch die beste Anwendung Krisen bis auf weiteres nicht autonom lösen und so werde die Mitarbeiter auch weiterhin in den Notfall- und Krisenorganisationen der Schlüsselfaktor für die Bewältigung unvorhergesehener Ereignisse mit hohem Schadenspotential bleiben. Unternehmen sind in dem heutigen volatilen Umfeld gut beraten, sich organisatorisch und technisch auf die Bewältigung solcher Ereignisse vorzubereiten. Am Ende aber sollte der wichtigste Schritt für den Erfolg nicht vergessen werden, der da heißt: „Üben, üben, üben!“
Auf der Basis der im Artikel beschriebenen Anforderungen an eine technische Lösung im Bereich Notfall- und Krisenmanagement hat das Beratungsunternehmen Verismo GmbH das Unterstützungs-Tool DEMiOS entwickelt. DEMiOS begleitet und steuert den gesamten Krisenbewältigungsprozess, beginnend mit der Ereigniserfassung, der Bewertung des Ereignisses mit Blick auf das Gefährdungs- und Schadenspotenzial, dem Informations- und Alarmierungsmanagement bis hin zur eigentlichen Krisenreaktionsarbeit. DEMiOS greift dabei auf den bewährten Führungsrhythmus des Schweizer Zivilschutz zurück, den die Verismo GmbH für die Nutzung in Wirtschaftsunternehmen angepasst hat. Zudem bietet das System die Einbindung in eine bestehende IT-Systemlandschaft.
Die Verismo GmbH bietet neben produktspezifischen Schulungen zu DEMiOS ein breites Angebot an Fortbildungs- und Trainingsmaßnahmen an der unternehmenseigenen Verismo Academy in Haßloch/Pfalz u.a. in den Bereichen Risiko-, Notfall- und Krisenmanagement an.
1 Siehe dazu: Klaus Bockslaff, Grundlegende Erfahrungen der Krisenstabsarbeit der vergangenen zwölf Monate, in: s+s Report, Heft 1 / 2021, Seiten 53 – 57
2 Inoffizielle Übersetzung von Crisis management – Guidance and good practice, BS 11200:2014, Kap. 6.1. Auf Grundlage dieses Standards wird derzeit bei der ISO der Krisenmanagement Standard ISO 22361
3 Eine besonders erwähnenswerte Ausnahme ist das Buch von Laurent F. Carrel, Leadership in Krisen, Zürich, 2010.